Sorrento 16. März 1895
Hotel Victoria
Liebe Lotte! Schon seit einer Woche sitzen
wir in Sorrent und nochhabe ich mein
Versprechen nicht gehalten, habe Dir noch
kein Lebenszeichen von uns gegeben.
Doch Du kan̄st Dir ja denken wie das
ist, je weniger man zu thun hat, je wen-
iger ist man aufgelegt etwas zu thun.
Nicht das schöne Wetter uns nicht zur
Ruhe kom̄en ließe, den̄ wir hatten
einige Tage gründlich schlechtes Wetter,
so daß man zwischen Sturm u. Regen
hindurch sich ein Stündchen in's Freie
hinaus arbeitete. Die ersten Tage
war es leidlich nur lag überall
der Schnee, sogar der Vesuv war
kaum zu erken̄en in seinem wei-
ßen Kleid. Seit gestern haben wir
Bitte auch die Deinen von uns zu grüßen.
Nordwind und hoffen wir, daß er
gut aufräumt u. uns beständiges
Wetter schafft. Gestern machten wir
die erste Wagenfahrt, eine schöne Tour
über Massa nach Deserto, ein Kloster
auf einem Berg mit wundervoller
Aussicht auf Neapel u. Capri. Heute
haben wir nun noch eine größere
Tour gemacht wir fuhren heute
schon 6 Stunden nach Prayano hin
u. zurück. Es war unbeschreiblich
schön. Du erinnerst Dich noch an un-
sern gemeinschaftlichen Ausflug
nach Amalfi? Damals sprach man
schon von der neuen Straße bis
Sorrent. Leider ist diese bis zur Stun-
de noch nicht fertig und muß
man zwischen Prayano u. Amalfi
2)
per Kahn verkehren. Wir begnüg-
ten uns heute mit der Wagen-
fahrt, da wir doch die Tour über
Lacava, Sallerno machen wollen.
Wen̄ das Wetter günstig bleibt,
so gehen wir morgen nach Capri
oder Pompey. - Wir haben es hier
herrlich es ist ein herrlicher Hotel
man ist aufs Beste verplegt und
wir haben ein prachtvolles Zim̄er
mit der Aussicht auf Neapel u.
den Vesuv. Ich wünsche sehr daß
mein guter Man̄ hier noch eine
Weile aushält, den̄ mir thut die
Ruhe hier gut u. die Luft ist so
rein u. wohlthuend. Hoffentlich
bringe ich hier meinen Husten los
u. lerne wieder, ohne Mittel
zu schlafen. Als ich Dir die letzten
Zeilen schrieb, wußten wir noch
nicht genau wo wir bleiben wer-
den. Wir hätten nicht ungern eine
kleine Seereise nach Tunis u. Gib-
raltar gemacht; doch wir in
Genua waren und wir Vorschrifts-
halber erst nur Plätze bis Neapel
nehmen wollten, da Willy für-
rchtete, daß ich es vielleicht schlecht
ertragen kön̄te, so wurde uns
mitgetheilt, daß die Normania
keine Paßagiere für Neapel nehme.
Um nun keine Zeit zu verlieren
u. bald in ein wärmes Klima
zu kom̄en, setzten wir uns auf
die Bahn u. dampften hierher.
3)
Was wir später thun werden, wen̄
wir hier fort gehen, wissen wir
noch gar nicht, zu viel wagen dür-
fen wir nicht, dēn ich soll gesund
nach Hause kom̄en. Habe ich Dir geschrie-
ben, daß Willy einen Ruf nach Frei-
burg abgelehnt hat? Es wurde ihm der
Entscheid schwer, weil in Freiburg das
Klima besser ist. Ich bin nun froh, daß
es entschieden ist, ich hatte große Sor-
gen, daß Willy einen Schritt thun kön̄te
den er später bereuen würde.
Es wäre mir sehr lieb, wen̄ ich hier
Nachricht von Dir bekäme, ich möch-
te doch auch gerne erfahren, ob
die Photographien gut bei Dir
angekom̄en sind. Du kan̄st sie
nun ruhig behalten, bis Du mit
Deinen Vorträgen fertig bist.
Vorgestern hatten wir einen
Brief von Dr. Cohen in dem er uns
mittheilt, daß er nach Palerno
reise u. daß es ihn freuen würde
uns auf der Reise zu treffen. So
hoffen wir, daß er uns vielleicht
hier ein paar Tage Gesellschaft
leistet! - Liebe Lotte ich weiß wirk-
lich nicht mehr, ob ich Dir geschrieben
habe, daß Else Maas mich gebeten hat,
sie bei Dir zu entschuldigen, daß sie
Dir keine Anzeige geschickt habe;
aber es sei ja Alles so schnell gekom-
men, daß sie leider manchen Fehler
gemacht habe! Nun aber muß ich
schließen, den̄ es ist spät. Empfange
von uns beiden die herzlichsten Grüße.
Deine getreue Tante Bertha.