Die Malerei in Haiti reicht als traditionelle Ausdrucksform mit religiös inspirierten Wandbildern bis ins 18. Jahrhundert zurück. Nach dem zweiten Weltkrieg entwickelte die haitianische Kunst, ausgehend von der Schule Cap Haitien einen figürlichen Stil mit flächigen Farben und volkstümlichen Motiven. Seit den 1960er Jahren haben die Werke haitianischer bildender Kunst auf dem Kunstmarkt einen hohen Stellenwert. Einer der bekanntesten Sammler haitianischer Malerei war der Hollywood-Regisseur Jonathan Demme (Philadelphia, Das Schweigen der Lämmer).
Edouard Jean begann 1972 mit Philomé Obin im klassischen Stil der Schule von Cap Haitien zu malen. Sein Bild "Impfung auf dem Marktplatz" erfasst die Szene in einer Totale. Den Hintergrund bildet urbane Architektur in Pastelltönen mit sanft geschwungenen grünen Hügeln. Um einen hohen Baum in der Mitte des Marktplatzes versammeln sich zahlreiche bunt gekleidete Menschen, meist Eltern mit ihren Kindern, aber auch Kinder in Schuluniformen. Krankenschwestern und Ärzte in hellblauer und weisser Kleidung verabreichen die Impfungen. Alle Beteiligten sind Einheimische, von den früheren europäischen Kolonialherren und deren kreolischen Statthaltern ist nichts zu sehen. 1946 konnte sich die afro-haitianische Mehrheit gegen die von den USA unterstützten afro-europäischen Machthaber politisch durchsetzen. Die Durchführung einer koordinierten Impfung wird vor diesem Hintergrund zum Symbol von Emanzipation und postkolonialer Selbstermächtigung. Im gegenwärtigen Europa wird das Thema Impfung kontrovers und emotional diskutiert, zur Entstehungszeit des Gemäldes wurde Impfung als Meilenstein im Kampf gegen Kindersterblichkeit durch Pocken, Diphterie, Polio und viele andere Krankheiten wahrgenommen. Rechts mittig findet sich die Signatur "Edouard Jean, Cap-H".