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Museum Alexandrowka Ausstellung: Abgebrannt [Ab-2008-07]
Spaziergang (Tim Esser CC BY-NC-SA)
Provenance/Rights: Tim Esser / Tim Esser (CC BY-NC-SA)
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Spaziergang

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Description

In der Kolonie, irgendwann im Mai
Er durchstöberte wie gewöhnlich ihren Kleiderschrank auf der Suche nach Neuem und entdeckte mitten unter den anderen Stoffen diesen weinroten Samt, von dem er seinen Blick nicht mehr abzuwenden vermochte. „Oh wie wundervoll! Bitte, bitte, liebes Schwesterchen, darf ich es einmal herausnehmen?“ flehte er sie an und Auguste sah nur kurz über ihre Schultern, während sie ihr langes blondes Haar vor dem Spiegel bürstete und meinte: „Von mir aus, nur zu, aber sei vorsichtig!“ Behutsam nahm Iwan das Samtkleid heraus und trug es in beiden Händen wie die Reliquie eines Heiligen vor sich her in die Mitte des Zimmers. Er strich über den Stoff, folgte mit den Augen den komplizierten Linien der schwarzen Stickerei, roch an den parfümierten Ärmeln und rieb schließlich seine Wange daran. Dann drehte er sich mit dem Kleid um seine eigene Achse und bemerkte nicht, wie seine Schwester ihn nachdenklich beobachtete. Als er atemlos stehen blieb und plötzlich nicht wußte, was er hier eigentlich tat, sah er irritiert zu ihr herüber. (...)Iwan wollte ihr das Kleid wieder zurückgeben, doch sie wies es zurück und mit einem durchdringenden Blick sprach sie: „Magst Du es nicht mal probieren?“ (...)
Seither hatte Iwan schon sooft Frauenkleider getragen, daß es mittlerweile nichts Besonderes mehr für ihn war. Einige der Röcke und Blusen waren von seiner Schwester „vererbt“, wie sie es nannte, einiges jedoch hat er sich selbst geschneidert und damit zum ersten Mal Freude an seinem Beruf empfunden. Doch wann immer er sich auch in einem langen Rock und einem Seidenschirm auf die Straße begab und mit der rechten Hand schnell noch ein paar Locken aus der Stirn strich, niemals wieder würde es so sein wie an jenem dämmrigen Frühlingsabend, kurz bevor seine Schwester auf die Straße ging. Dieses Gefühl des Erwachens und der Freiheit, diese Lust gleich loszulaufen und aller Welt zu sagen, daß sie ihn könne, wenn sie ihn nicht akzeptiere, und er sich von niemanden mehr Vorschriften machen lasse, dieses Gefühl des Aufatmens und der Lebendigkeit hatte er seither nie wieder so intensiv gespürt, wie in dem Augenblick, wo er vor dem Spiegel stand als ein in weinrot entflammter Junge mit zerzaustem Haar und Rändern unter den Fingernägeln.

Material/Technique

Digitaldruck

Measurements

70 x 100 cm

Museum Alexandrowka

Object from: Museum Alexandrowka

Das im Januar 2005 eröffnete Museum ist ein begehbares Baudenkmal aus dem Jahr 1826. Die verschiedenen Räume präsentieren sich im Stil des...

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