Nackt und gebeugt, die Hände auf den Knien, sitzt der Gigant über einer flachen Landschaft und schaut zurück. Teile seines Gesichtes und seines muskulösen Rückens werden vom Widerschein der aufgehenden Sonne gestreift, während rechts oben am dunklen Himmel noch die Sichel des abnehmenden Mondes steht.
»Der Koloß« stellt eine der eindringlichsten und sicher auch geheimnisvollsten Bilderfindungen Goyas dar. Die von ihm aufgegebenen Rätsel beginnen mit der Bestimmung von Technik und Entstehungszeit. Ein noch schwierigeres Problem ist die inhaltliche Deutung des Blattes. Alle diese Fragen sind bis heute nicht eindeutig geklärt. Technisch ist »Der Koloß« in einem für Goya ungewöhnlichen Verfahren ausgeführt, das er nur hier anwandte. Harris beschrieb es noch als Schabkunst (Mezzotinto), während man heute auf die ursprüngliche Annahme von Lehrs, es handele sich um eine mit dem Schaber bearbeitete sehr dichte und feine Aquatinta, zurückgekommen ist. Die Seltenheit der erhaltenen Exemplare erklärt sich wohl aus dem Umstand, daß die Platte vorzeitig beim Druckvorgang zerbrach. Thematisch hängt die Graphik mit einem zwischen 1808 und 1812, also während des spanisch-französischen Krieges entstandenen Gemälde im Prado zusammen. In der Annahme einer in etwa gleichzeitigen Entstehung wurde die Graphik wie das Bild als Symbol für die Unterdrückung und Bedrohung des spanischen Volkes gedeutet oder auch als Gleichnis für dessen Widerstandskraft. Daneben gibt es eine Reihe anderer, bisher rein hypothetischer Deutungsvorschläge. Auch als allgemeine Personifikation des Krieges oder Darstellung des saturnischen Temperamentes, der Melancholie, ist der Gigant interpretiert worden.
Text: Sigrid Achenbach in: Das Berliner Kupferstichkabinett. Ein Handbuch zur Sammlung, hg. von Alexander Dückers, 2. Auflage, Berlin 1994, S. 344–346, Kat. VI.48 (mit weiterer Literatur)
en