Mit schnellen Federstrichen hat Kirchner die Szene in seinem Atelier in der Berliner Straße in Dresden festgehalten. Im Vordergrund sitzen sich Kirchners Freundin »Dodo« Erna Schilling mit modischem Federhut und der Künstlerfreund Erich Heckel, erkennbar am Spitzbart, im Gespräch vertieft gegenüber. In der Mitte des Raumes steht die dreizehnjährige Marzella und hinter Dodo die gleichaltrige dunkelhaarige Fränzi. Fränzi und Marzella, zwei halbwüchsige Töchter einer Artistenwitwe aus der Dresdener Friedrichstadt, stießen 1910 zu den »Brücke«-Künstlern, die sie, fasziniert von der Erotik der Kindfrauen, als willkommene Modelle aufnahmen. Die sich auf wenige Striche eingrenzende Gestalt der Marzella mit dem schmalen Gesicht und der Schleife im Haar erinnert sehr an die im Kupferstichkabinett aufbewahrte Zeichnung »Sitzende Marzella« (Ident. Nr. NG 5/62), ebenfalls von 1910.
Den skizzenhaften Zeichenstil hatte Kirchner im Sommer 1910 angenommen. Er entstand unter dem Eindruck der reduzierten Formensprache außereuropäischer Kunst, die die Künstler der »Brücke« seit etwa 1903 im Dresdner Völkerkundemuseum studierten und die zunächst nur in der Gestaltung eigener Gebrauchsgegenstände Verwendung fand. 1910 lösen sich Kirchners Zeichnungen von dem deutlich von Edvard Munch geprägten runden Lineament und führen in die spitzwinkligen Formen seiner für die folgenden Jahre typischen Zeichnungen. Die zahlreichen gezeichneten, gemalten oder photographierten Innenansichten des Ateliers sind überwiegend aus derselben Sicht aufgenommen. Der Blick führt von der Eingangstür in die hintere linke Ecke, wo eine Türöffnung einen angrenzenden Raum sichtbar werden läßt. Die Tür war mit dem berühmten Vorhang mit den sogenannten barbarischen Liebespaaren< drapiert. In der Federzeichnung ist der Vorhang angedeutet durch eine schräge Linie oberhalb des Türsturzes, der Zickzacklinie einer ornamentalen Form und einer Kreisform, eines Rudiments von insgesamt sechs Medaillons, die Liebespaare in verschiedenen Stellungen zeigen. An der Wand rechts davor lehnt ein Gemälde mit zwei tanzenden Figuren, spätere Ansichten zeigen an derselben Stelle einen Spiegel von zwei geschnitzten Skulpturen flankiert.
Text: Eugen Blume in: Das Berliner Kupferstichkabinett. Ein Handbuch zur Sammlung, hg. von Alexander Dückers, 2. Auflage, Berlin 1994, S. 441 f., Kat. VIII.5 (mit weiterer Literatur)
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