Unter den späten "Bleistiftbildern", die der Farbe nicht mehr bedürfen, sind auch einige weiträumigere Landschaften und Stadtansichten. Der hier gezeigte Blick von einem hohen Balkon in eine Straße mit großen Stadtvillen lässt sich mit der möglicherweise vom selben Standort gesehenen Gouache "Aschermittwochmorgen" von 1885 (Tschudi 653, ehemals Nationalgalerie) vergleichen. Der (etwas geänderte) Blick durch ein Gitter aus kahlem Geäst ist ein häufiges Kunstmittel, mit dem Menzel das Sehen zugleich hemmt und auf das Hauptmotiv lenkt. Auf die anekdotische Staffage, die in den farbigen Blättern oft geradezu wuchert, verzichtet der alte Künstler in den Bleistiftzeichnungen meist.
Ein Skizzenblatt vom 10.Februar 1893 zeigt das große Haus im Vordergrund noch im Bau, man sieht die Zimmerleute bei der Arbeit am Dachstuhl beschäftigt (SZ Menzel N 845). Unsere Zeichnung mag demnach im Frühjahr oder erst im Herbst des Jahres entstanden sein. Sie zeigt Reste eines Baugerüstes an der weiter hinten liegenden Villa. Wo die Szene zu suchen ist, ob im Tiergartenviertel oder in Potsdam, bei welchem Freund oder Bekannten Menzel sich aufgehalten hat, um zu zeichnen, werden wir schwerlich enträtseln.
Text: Andreas Heese, in: Ausstellungskatalog: Das Labyrinth der Wirklichkeit, hg. von Claude Keisch und Marie Ursula Riemann-Reyher, Nationalgalerie Berlin, 1996/97, S. 348ff., Kat. 204 (mit weiterer Literatur)
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