Von September 1879 bis November 1880 hielt sich der Künstler in Venedig auf, um dort für die Londoner Fine Art Society eine umfangreiche Radierserie über die Lagunenstadt auszuführen. Die Idee hierzu geht auf Whistler zurück, der schon mehrere Jahre vor dem Auftrag einen entsprechenden Zyklus plante, durch wachsende wirtschaftliche Schwierigkeiten jedoch an dessen Realisierung gehindert worden war. Während seines Aufenthaltes in Venedig sind neben Gemälden und Pastellen 50 Radierplatten entstanden. In diesen entwickelte Whistler einen neuen, hieroglyphenartig verkürzten impressionistischen Radierstil, der später im deutschen wie auch im angloamerikanischen Sprachraum einen enormen Einfluß ausgeübt hat. Der größte Teil der Platten wurde 1880 und 1886 in zwei Mappen publiziert und als sog. »Erste« und »Zweite Venedig-Folge« bekannt.
»Nocturne«, mit einem Blick über das Marcus-Becken auf die im diffusen Dämmerlicht verschwimmenden Kirchen S. Giorgio Maggiore (rechts) und Sta. Maria della Salute (links) von A. Palladio bzw. B. Longhena, stammt aus der ersten Mappe. Herausgegeben von der Fine Art Society, erschien sie unter dem Titel »Venice. Whistler, Twelve Etchings«. Whistler radierte seine Motive ohne Vorzeichnung direkt in die Platte. Deshalb gibt der Druck die Ansicht seitenverkehrt wieder. Wahr-scheinlich gehört unser Exemplar zu den wenigen noch in Venedig vom Künstler selbst abgezogenen Probedrucken. Die Serie umfaßt einige Nachtstücke, die er in Anlehnung an die Musik, um entsprechende Klangassoziationen im Betrachter hervorzurufen, »Nocturnes« nannte. Da der Künstler, angeregt vom Beispiel Rembrandts und von der besonderen Atmosphäre der Stadt, mit dieser Gattung am meisten experimentierte, gehören sie zu den interessantesten Arbeiten der Folge. Durch geschicktes Manipulieren der Platten während des Druckvorgangs erzeugte Whistler hier höchst malerische, von Abzug zu Abzug wechselnde Lichteffekte. Mit der Steigerung des Hell-Dunkels bei fortschreitender Arbeit erreichte er zugleich eine Entmaterialisierung und poetische Verzauberung des Gegenständlichen.
Text: Sigrid Achenbach in: Das Berliner Kupferstichkabinett. Ein Handbuch zur Sammlung, hg. von Alexander Dückers, 2. Auflage, Berlin 1994, S. 404, Kat. VII.55 (mit weiterer Literatur)
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