Durch ihre noch immer kräftige und harmonische Farbigkeit beeindruckt die größte der mittelalterlichen Bildwirkereien im Berliner Kunstgewerbemuseum, der sogenannte Kirchenväterteppich, auch den heutigen Betrachter. Vor üppig mit ornamenthaftem Blattwerk und zahlreichen darin verwobenen dekorativen Vogeldarstellungen gefüllten Hintergrund stehen auf gotischen Konsolen im paarweisen Disput begriffene Figuren, die von geschwungenen Spruchbändern umfangen werden. Die an farbig gefasste Skulpturen erinnernden, lebhaft gestikuliernden Männer sind über ihren Köpfen bezeichnet: Der hl. Augustinus, einer der vier Kirchenväter, die alttestametlichen Weisen Hiob und Salomo sowie die antiken stoischen Philosophen Cato und Seneca sind auf dem erhaltenen, der Kirchenvater Gregor der Große, der mittelalterliche deutsche Dichter Freidank, die alttestamentlichen Gestalten Elias und David sowie der Scholastiker Thomas von Aquino waren auf dem anderen - seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges verschollenen - Teilstück des Bildteppichs (Inv. Nr. 1879,33 a) dargestellt. 2013 hat das Metropolitan Museum New York zwei weitere, in Teilen der Darstellung identische Bildwirkereien erworben, die nach gleicher Vorlage entstanden sind (Acc. 2014.66 a,b).
Die paarweise Anordnung lässt darauf schließen, daß einst mindestens zwölf Figuren vorhanden gewesen sein müssen. Leonie von Wilckens rekonstruierte ein insgesamt sogar 16 Figuren umfassendes Bildprogramm. Sie vermutete, daß alle vier lateinischen Kirchenväter und analog dazu je vier Weise des Alten Testaments, vier Vertreter der antiken Philosophen und vier bedeutende Geister des Mittelalters dargestellt waren.
Die literarischen Quellen der meisten Texte in den Spruchbändern sind bislang nicht nachgewiesen. Einzelne Verse entstammen der um 1230 vollendeten "Bescheidenheit" (Lebensweisheit) des auf dem verschollenen Berliner Teilstück des Kirchenväter-Teppichs dargestellten Dichters Freidank, einem Werk, das im Spätmittelalter eine bemerkenswert intensive Rezeption erfuhr. "Freidanks Bescheidenheit" wurde 1508 durch Sebastian Brant in Straßburg in einer gedruckten Ausgabe verlegt, die bis 1583 in sieben Auflagen erschien. LL
Entstehungsort stilistisch: Oberrhein (?)
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