Eine augenscheinlich bekümmerte Frau führt ein Kind zur ärztlichen Untersuchung vor. Zu diagnostischen Zwecken hat sie dem Arzt eine Urinprobe der kleinen Patientin mitgebracht. Die Harnschau war bis in die Frühe Neuzeit eine der wichtigsten Untersuchungsmethoden der humoralpathologischen Medizin, der zufolge die Mischung der Körpersäfte Gesundheit oder Krankheit bedingte. Über den medizinischen Tätigkeitsbereich hinausgehend verraten die im Raum verteilten Gerätschaften der Alchemie sowie die Betriebsamkeiten der Assistenten, die rechts vorn an einem portablen Ofen und im Hintergrund an einem Kamin mit Schmelz- und Destillationsprozeduren befasst sind, dass die Arztstube gleichzeitig als Laboratorium dient.
Figurenreiche Darstellungen weiträumiger Arbeitsstuben und Künstlerwerkstätten gehören zur Spezialität des Antwerpener Malers Gerard Thomas. Trotz der wirklichkeitsanmutenden Schilderung handelt es dabei in der Regel - so auch in diesem Fall - nur dem Schein nach um realitätsgetreue Abbilder zeitgenössischer Arbeitsräume. Requisiten wie hier der oben links drapierte Vorhang machen deutlich, dass es sich um eine künstlerisch inszenierte Komposition handelt, die der Maler aus musterhaften Versatzstücken in seinem Atelier zusammengestellt hat. Anleihen nahm Gerard Thomas dabei vor allem bei den Interieurs von David Teniers d. J., in denen viele der verwendeten Bildelemente bereits vorgebildet sind.
Das Gemälde ist zusammen mit einem Pendant, der ebenfalls typisierten Darstellung eines Malerateliers (Verbleib unbekannt), seit 1779 in der Sammlung nachweisbar und befand sich damals in einem zur Bildergalerie gehörigen Kabinett im Berliner Schloss. Heute ist es in der Bildergalerie in Sanssouci ausgestellt.
Jessica Korschanowski
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