Lovis Corinth hatte 1918 die Landschaft um den Walchensee für sich künstlerisch entdeckt und 1919 sein eigenes Haus in Urfeld bezogen. Er hielt sich bis kurz vor seinem Tode insgesamt 16 mal, meist wochenlang und zu allen Jahreszeiten, vorwiegend im Sommer, hier auf. So konnte diese elementare, urtümliche Landschaft zum großen Erlebnis seiner letzten Schaffensphase werden. Immer wieder und in sich stets neu entzündender Schaffenslust entstanden während aller wechselnden Naturstimmungen zahlreiche Gemälde, Aquarelle und Zeichnungen.
Unser Blatt ragt unter den Aquarellen, im Januar 1925 während des letzten Aufenthaltes am Walchensee entstanden, in besonderer Weise heraus. In fließender, verwischender Technik, nur scheinbar unvollendet, aus einer Summe des Sehens resultierend und doch spontan hingeworfen, erhält die Landschaft etwas nahezu amorph Aufgelöstes. Vom erhöhten Standort aus erhebt sich der Betrachter mit dem Künstler hinauf, und der winterliche See mit dem Wettersteinpanorama breitet sich in suggestiver Übersteigerung gleichsam aus der Vogelschau unter ihm aus. Paul Fechter sagt 1926 dazu: »Der Bau dieser Bilder wiederstrebt der gewohnten Analyse; die farbige Ordnung vom Bild aus, von seiner Gesetzmäßigkeit ist nur mühsam festzustellen und zu umschreiben. In dem Moment aber, in dem man das Bild sieht, erlebt man ihn ohne weiteres und zwar als etwas lebendig Gebliebenes. Es ist, als ob diese Landschaften keine feste Struktur haben wie die früheren, sondern eine innere Bewegtheit, als ob Corinth nicht, wie es der Impressionismus versuchte, die Bewegung, sondern die große innere, geheimnisvolle Bewegtheit der ganzen Natur gemalt hat.« (Kat. Walchensee 1986).
Text: Gottfried Riemann: Das Berliner Kupferstichkabinett. Ein Handbuch zur Sammlung, hg. von Alexander Dückers, 2. Auflage, Berlin 1994, S. 427 f., Kat. VII.79 (mit weiterer Literatur)